Wieso sich Boston auch im Regen lohnt

Boston, die Stadt der so kreativ benannten Boston Tea Party und urbaner Idealtyp Neuenglands lässt seine Besucher an jeder Ecke den „american spirit“, den Drang nach Freiheit spüren. Und auch wenn dieser ein allgemeines Phänomen der USA ist, so wird gerade in diesem Zusammenhang doch immer sehr der East Coast-, West Coast-Unterschied deutlich, vor allem bei einer Tour durch die großen und alten Städte der Ostküste.

Boston

Während die Westküste mit ihren endlosen Highways, schnurgerade Wüstenstraßen, kurvigen Küstenwegen und 1950s Diners vor allem dem (gewissermaßen) modernem Wookstock Freiheitsdrang entspricht, umgibt die Ostküste, damit allen voran Boston, ein ganz anderer, reiferer Freiheitsgedanke. Die Urform dessen: Independence

Es macht Spaß, an verregneten Herbstnachmittagen ausgestattet mit einem guten Regenschirm und warmen Mantel, Reiseführer links liegen zu lassen und einfach dem „Freedom Trail“ zu folgen.


Geht man die abendliche Unterhaltung in Boston ähnlich spontan an wie obiges Projekt, kann ich versprechen, dass man ebenfals auf seine Kosten kommen wird. Zwar spielt sich das Bostoner Nachtleben nicht wie in manchen legendären Metropolen auf den Straßen ab („One Night in Bangkok…“), dafür aber in den hunderten Pubs und Bars der Stadt. Dennoch ist dies eine Tatsache, die Reiseführer ablehnende, Hongkong und Bangkok verwöhnte, Spontanreisende erst einmal gelernt haben müssen.

Auch sollte man darauf vorbereitet sein, dass die Vielzahl an Pubs und Bars nicht übersichtlich auf einer Laufstrecke liegt, sondern gerade so, dass der eine versichert sein kann, seine Stamm- und Laufkundschaft nach einer langen Nacht nicht mehr an die Konkurrenz verlieren zu können. Wobei diese Stammkundschaft zu einem nächtlichen Gewaltmarsch weder physisch noch mental in der Lage wäre.

An jenem besagten regnerischen Herbstabend führte das nun also dazu, dass man anstatt der erhofften urigen Pubs am Bostoner Hafen nur einen verlassenen und einen mit geschlossener Gesellschaft vorfand. Die abweichenden Öffnungszeiten waren nun aber definitiv nicht auf Google Maps, dem modernen besten Freund eines jeden Reisenden, zu finden.

Kombiniert mit der statistisch nicht belegten Tatsache, dass die Wartezeit auf Uber und Taxi Services mit schlechter werdenem Wetter exponentiell steigt hieß das Folgendes: Man hatte Zeit, sehr viel Zeit, sich mit dem ruhigen (um nicht zu sagen höchst langweilig und eintönig scheinenden) Bostoner Hafenviertel genau auseinanderzusetzen. Regenschirme schützen auch nicht vor Wind und Kälte, also ging es in eine dunkle Gasse direkt am Kai, von welcher aus man die Lichter der wesentlich belebteren Stadt am anderen Ende des Hafenbeckens ein kleines bisschen neidisch beobachten konnte. Die Stimmung war einem dieser typischen Werke der Großstadtlyrik irgendwann um die Jahrhundertwende nicht unähnlich…

[…]
Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen – bunte Öle;
[…]

(Auf der Terrasse des Café Josty – Paul Boldt)

Monate später habe ich durch Zufall erfahren, dass der Platz am Hafen, an dem ich etwas unfreiweillig einen Teil meines Abends verbrachte, ein beliebtes Ziel für Fotografen auf der Suche nach einem charakteristischen Boston Motiv ist.


Nicht nur im Regen und bei Nacht halte ich Boston für ein wunderschönes Reiseziel, perfekt für jeden, der den schnörkelig-historisch-modernen Ostküstenflair liebt, sondern auch ganz allgemein erlebte ich die Stadt gerade zu den unmöglichsten Zeiten als besonders beeindruckend.

Wer also kein Nachtmensch ist oder nicht lieber von Anfang an die richtigen Restaurants während ihrer tatsächlichen Öffnungszeiten besucht, dem kann ich nur ans Herz legen, einmal irgendwann zwischen 5 Uhr und 7 Uhr morges durch die Stadt zu gehen. Die meisten Geschäfte sind zu dieser Zeit geschlossen, aber es reicht allemal um sich bequem Bagel und Kaffee bei Starbucks zu holen und anschließend dem berühmten Boston Market noch vor dem ersten Besucherstrom beim Aufwachen und Aufbau zuzusehen.

(Von dem wunderschönen Laternenlicht auf den roten Mauern und Straßen im Morgennebel ganz zu schweigen.)

Boston und seine Straßenlaternen um 6 Uhr morgens
Boston, MA | 6 Uhr morgens